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Rudolf Thome im Gespräch mit Gudrun Max und Karlheinz Oplustil in Berlin,
17. Januar 2004

(während „Rot und Blau“ im Kino läuft, „Frau fährt, Mann schläft“ in zwei Monaten ins Kino kommen soll und zwei Monate vor dem geplanten Drehbeginn von „Rauchzeichen“)

Große Themen, kleine Themen

KH: Wir wissen, daß für dich die „Cahiers du Cinéma“ sehr wichtig gewesen sind, und die haben ja – in den fünfziger Jahren - schon eine Diskussion geführt über die Frage von großen und kleinen Themen. Wie würdest du das jetzt in Bezug auf diesen Film sehen? Hat der ein großes Thema oder ein kleines?

R: Generell denke ich haben alle meine Filme kleine Themen. Ich hab angefangen bei meinem ersten Kurzfilm, da war die erklärte Richtung, in die ich gehen wollte, andere Filme zu machen als die Oberhausener es gemacht haben, keine sozial-gesellschaftskritische Filme, sondern Filme über den Alltag, und ich denke, ich habe seither immer nur Filme über den Alltag gemacht. Natürlich habe ich Filme gemacht wie „Rote Sonne“, wo vier Frauen alle Männer, die sie treffen, umbringen. Aber ich habe den Alltag in dieser Geschichte, dieser Fiktion, gezeigt: ich hab gezeigt, wie die Frauen frühstücken, wie die Frauen ausgehen, wie sie fernsehen und auch, wie sie Männer umbringen. Ich habe das Männer-Umbringen quasi als eine Alltagsverrichtung gezeigt. Das war die Provokation des Films, und das mag ich gerne.
Unter großen Themen versteht man ja meistens historische Stoffe. Ich will aber nie historische Filme drehen. Das ist für mich langweilig. Da wird irgendetwas rekonstruiert, da wird etwas zurechtgemacht, damit es etwas Kinoähnliches wird. Kino ist für mich immer die Entdeckung der Wirklichkeit. Und Wirklichkeit ist nur jetzt.

Alles passiert gleichzeitig

KH: Du hast schon „Die Vergangenheit“ gemacht und willst bald „Die Zukunft“ drehen. Man wird sicher auch bei „Frau fährt, Mann schläft“ nicht sagen können, er spiele nur in der Gegenwart.

R: Er spielt nur in der Gegenwart, nur im Hier und Jetzt. Bei „Rot und Blau“, der „Zeitreisen – Die Vergangenheit“ als Untertitel hat, mache ich ja keine Rückblende. Da geht es darum, daß die Vergangenheit das wesentliche, das zentrale Motiv des Films ist, aber was passiert, ist immer in der Gegenwart.
Die Vergangenheit spielt immer mit hinein in die Gegenwart, die Gegenwart ist von der Vergangenheit bestimmt, und das zeigt der Film. Das ist genau so wie in „Paradiso“. Da ging es mir darum, das Porträt eines älteren Künstlers zu machen, und ein Porträt muß ja die Lebensgeschichte erzählen. Das hätte ich eigentlich nur mit Rückblenden machen können. Aber da ich das nicht machen will, hab ich seine Lebensgeschichte erzählt, indem ich alle Frauen, die in seinem Leben eine Rolle gespielt haben, in der Gegenwart auftreten lasse, und über das, was früher war, sprechen die, weil sie sich ja auch zum ersten Mal sehen in dieser Kompaktheit da, und damit hole ich über die Frauen die Vergangenheit in den Film hinein. Dadurch entsteht ein Porträt von ihm. In „Rot und Blau“ ist es ähnlich. Und in „Frau fährt, Mann schläft“ da habe ich das Problem überhaupt nicht, weil da sowieso alles Gegenwart ist. Das war meine Ausgangsidee, wie kann ich die Gegenwart verstärken, wie kann ich sie multiplizieren, und dafür war meine Lösung: alles passiert gleichzeitig. Was man ja auch erst im Verlauf der Geschichte, in den ersten dreißig Minuten des Films merkt: zur selben Zeit haben sie einen großen Auftritt im Fernsehen in einer Talkshow, gleichzeitig ziehen sie um, gleichzeitig wird der älteste Sohn krank, gleichzeitig gibt’s da Liebesgeschichten zwischen den Kindern, und gleichzeitig ist da trotz des Umzugs eine erhebliche Ehekrise, und das alles entwickelt sich dann während des Films.

G: Was ist eigentlich das Problem dieser Ehe? Was haben die für ein Problem miteinander? Er geht fremd, sie geht fremd. Warum tut man das? Das macht man doch nicht, wenn alles stimmt in der Ehe.

R: So was gibt’s! Mach mal eine Umfrage, welche Ehen glücklich sind. Ich betrachte jede Ehe, von der ich erfahre, daß sie glücklich ist, wie ein Wunder.

KH: Im Film ist ja auch eine bewußte Ironie dabei: sie werden durch das Fernsehen als glücklichste Familie vorgestellt, und am Anfang kann man das durchaus so sehen.

R: Da muß man wirklich genauer gucken. Man darf nicht auf das vertrauen, was jeder sagt. Besonders, wenn der Mann etwas sagt. Dabei ist er im Profil zu sehen und seine Frau sieht man frontal. Ihre Reaktionen auf sein Reden sind sehr wichtig, die sagen viel mehr als das, was er sagt. Und die machen gleich schon ganz viele Fragezeichen.

KH: Nach diesem Fernsehauftritt entwickelt es sich jedenfalls so, daß man die größten Zweifel bekommt.

R: Natürlich. Man sieht es im Grund genommen bei der Anfahrt, wenn sie mit dem Bus abgeholt werden. Wenn sie in dem Bus sitzen, gibt es eine Großaufnahme von jedem Familienmitglied. Im Grund genommen kriegt man da schon mit, daß das nicht wirklich eine glückliche Familie ist. Das wirkt ja ein bißchen wie ein Abtransport an einen Ort, wo etwas ganz Furchtbares auf sie wartet.

Philosophie und Sex

KH: Im Rahmen der Trilogie gibt es bei „Frau fährt, Mann schläft“ eine besonders intensive Gegenwart.

R: Wenn der Untertitel der Trilogie „Zeitreisen“ heißt, dann heißt das natürlich nicht, daß man eine Zeitreise macht. In die Gegenwart kann man ja sowieso keine Zeitreise machen. Aber die Zeit ist quasi immer das zentrale Motiv des jeweiligen Films.

KH: In „Frau fährt, Mann schläft“ gibt es zumindest einen sehr langen Ausflug in die Vergangenheit, wenn Hannelore Elsner von der Zeit ihrer früheren Liebe spricht, ein langer Monolog.

R: Es ist kein Monolog. Es ist genau das Gegenteil. Was sie redet, das sind ja Sachen, die er ohnehin weiß. Es wäre eigentlich überflüssig, das zu sagen. Aber es ist was ganz anderes. Es ist ein Versuch der beiden, überhaupt wieder einmal miteinander ins Gespräch zu kommen, mal wieder miteinander so wie früher zu reden. Sie erzählt ja da, wie das war, als er von Philosophie gesprochen hat, wie toll das für sie war, und jetzt versucht sie daran anzuknüpfen, um wieder mit ihm zu reden. Und es entsteht ja ein Gespräch, er reagiert auch darauf. Das ist ja das Verrückte bei „Frau fährt, Mann schläft“. Man kann sich auf ihn konzentrieren und man kann sich auch auf sie konzentrieren, wenn sie zusammen sind. Der Film funktioniert bei beiden, egal auf wen man sich konzentriert. Wenn man sich auf ihn konzentriert, sieht man, wie er auflebt, wie er sich freut, wenn sie über die erotischen Momente ihrer Vergangenheit spricht. Da fängt er dann plötzlich an, richtig zu strahlen. Ich meine, das ist einfach schön. Und sie spürt natürlich seine Reaktion, weil es ein Dialog ist in der Sprache wie auch in den Bewegungen, die genau so wichtig sind. Sie umschwärmt ihn ja regelrecht, sie spaziert dauernd um ihn herum. Er bleibt stehen, verändert ein bißchen seine Position. Sie läuft hin und her. Es ist wie ein Tanz.

G: Oder auch wie ein Planet oder ein Mond. Er steht da wie ein Fels, und sie dreht sich immer um ihn.

R: Sie fordert ihn schließlich heraus. Er hat sie in diese Klapsmühle gesteckt. Ihr ging’s ja auch schlecht, aber jetzt wird sie wieder lebendig. Sie knüpft ihn sich richtig vor. Und wenn sie ihm sagt, er hätte sich nach jedem Mädchenrock umgedreht, und dann sagt er, ich hab nur auf die Beine geguckt, und sie sagt dann: die Beine hören ja auch irgendwo auf, das ist doch wunderbar!

KH: Sie sagt auch: damals gab es Philosophie und Sex, besser kann das Leben ja gar nicht sein. Aber der Sex scheint ja abhanden gekommen zu sein.


R: Die Philosophie genauso. Alles ist abhanden gekommen.

Die Verteidigung des Drehbuchs

G: Wie war die Zusammenarbeit mit Hannelore Elsner?

R: Weißt du, wie ich schreibe? Ich denke nicht nach, ich schreibe. Wenn ich drehe, fragen mich die Leute ja immer, wie ist das, wie soll das werden. Ich sage, ich hab keine Ahnung! Ich weiß es nicht mehr. Und wenn der Drehort anders ist, als ich ihn mir beim Schreiben vorgestellt habe, und ich dadurch etwas am Ablauf einer Szene und im Dialog ändern muss, stehe ich oft da wie vernagelt und bin völlig hilflos. Ich kann keinen Dialog erfinden. Die Leute sagen natürlich, du hast das ganze Zeug geschrieben, warum kannst du nicht jetzt da einen Satz finden. Das kann ich nicht. Das Drehbuch ist etwas, was weit, weit weg ist, etwas mit dem ich gar nichts mehr zu tun habe. Wenn ich jetzt da eine Lösung brauche, dann wende ich mich immer an Hannelore Elsner, die das Drehbuch ununterbrochen liest. Sie ist diejenige, die das Drehbuch besser kennt als jeder andere, die es oft gegen meine Einfälle oder die des Kameramanns verteidigt und sagt: nein, nein, das ist gut, das musst du so machen, wenn ich dabei bin, schon wieder alles ganz anders zu machen, etwas völlig zu verändern. Weil mir das Drehbuch beim Drehen nicht so wichtig ist. Ich habe schließlich drei Filme ganz ohne Drehbuch gemacht. Ich betrachte mich ja nicht als Drehbuchautor, sondern als Regisseur. Der Film entsteht für mich nicht beim Drehbuchschreiben, sondern beim Drehen. Beim Drehbuchschreiben lebe ich völlig abgekapselt von der Welt, egal wo ich sitze, am Strand in Florida oder bei mir auf meinem Bauernhof, und habe im Grunde keine Ahnung von dem, was ich tue. Fast nicht. Das stimmt, wenn ich das so sage, aber es stimmt natürlich auch nicht, weil ich beim Schreiben an das Erzählen der Geschichte denke, da bin ich total drin. Ich schreibe ja nur zwei oder drei Stunden am Tag und tue den Rest des Tags völlig andere Dinge, arbeite im Garten oder räume Sachen auf. Aber das Schreiben geht immer weiter. Ich bin so konzentriert, daß ich eigentlich nichts anderes mehr wahrnehme und nur an das Schreiben denke. Daher schreibe ich im Grund genommen 28 Tage lang Tag und Nacht, obwohl ich effektiv nur zwei, drei Stunden dasitze und wirklich schreibe. Und bei diesem bewusst unbewussten oder unbewusst bewussten Schreiben kann ich mir vorstellen, daß alles, was ich je erlebt, gehört, gesehen, gelesen habe in das reingeht, was ich da herstelle. Es ist ein bißchen wie Träumen.

Die Tiefe ist außen

G: Du sagst, sie kennt das Drehbuch so gut, wir machen das jetzt so. Damit hast du keine Probleme?

R: Überhaupt nicht. Weil sie fast immer recht hat und im Gegenteil das Drehbuch mehr verteidigt als ich. Und Hannelore ist keine Intellektuelle so wie manche anderen Schauspieler. Sie ist so sehr wie ich, daß das wirklich manchmal frappierend ist. Sie arbeitet aus dem Bauch, finde ich. Sie überlegt nicht, sondern macht es. Und ein Schauspieler, der quasi das, was dasteht im Drehbuch, „übersetzt“ in „Ausdruck“, das ist die andere Art. Es gibt ja auch Regisseure, die eine Idee im Kopf haben als erstes, und das dann transformieren, übersetzen in etwas Konkretes, da gibt es dann immer etwas „dahinter“, denn das Dahinter war ja der Ausgangspunkt, und der wird natürlich auch sichtbar in dem, was „vorne“ zu sehen ist. Im Bild, in der Geschichte, in den Personen und dem was die machen, was die sagen. Und bei mir ist das gar nicht so, bei mir gibt’s überhaupt nichts dahinter.

KH: Das stimmt so nicht…

R: Ich habe oft den Satz von Gottfried Benn gesagt, der mich total beeindruckt und beeinflusst hat: „Die Tiefe ist außen.“ Natürlich gibt es eine Tiefe. Wenn das Außen richtig ist, stimmt und wirklich ist – es ist ja eh alles künstlich, was wir da machen im Film, es ist ja alles gefaked. Es passiert ja nicht wirklich. Aber wenn das Außen, das was man sieht, wirklich ist, dann wird auch etwas dahinter sichtbar. So wie es in der Wirklichkeit auch ist. Alles, was wir wahrnehmen, hat Hintergründe. Die Frage ist bloß, was der Ausgangspunkt beim Herstellen einer Geschichte ist: der Hintergrund, der dann in einen Vordergrund umgewandelt wird, oder der Vordergrund, der, weil er dicht genug ist, eine Tiefe entwickelt. Die Tiefe ergibt sich, wenn der Vordergrund stimmt, wenn der real ist. Das ist ja meine einzige Kunst, ich weiß ja nur, wenn’s stimmt, wenn ich drehe. Ich weiß ja nicht, wie ich es erreiche, aber ich weiß, wenn’s stimmt. Dann stellt sich die Tiefe automatisch ein, denn in diesem dichten Vordergrund gibt es ja unendlich viele Dinge zu sehen und zu analysieren. Und das sehe ich beim Drehen. Ich sehe beim Drehen einer Szene sofort alle Bezüge, die sich in dem Moment für mich ergeben. Im Fortlauf der Dreharbeiten bemühe ich mich dann, das zu verdichten, die Bezüge zu verstärken und unterstütze die Schauspieler, wenn sie das von sich aus tun.

KH: Machst du das schon beim Drehbuchschreiben? Daß du an bestimmte Bezüge denkst?

R: Auch. Aber weniger. Beim Schreiben ist es fast für mich wie am Schneidetisch sitzen. Ich mache die Schnitte. Ich schneide Stückchen aus der Wirklichkeit der zukünftigen Geschichte heraus und gebe auch da einen ganz präzisen Rhythmus vor und setze sehr bewusst kontrastierende Szenen zusammen und habe dabei auch Freude. So wie in „Rote Sonne“: die Mädchen frühstücken und in der nächsten Szene wird ein Mann umgelegt. Das ist natürlich ein starker Kontrast, aber das gefällt mir. In „Frau fährt, Mann schläft“ ist der Sohn am Sterben und die Mutter heult und ist völlig fertig, der Mann ist auch zerknittert und die Tochter, die hat natürlich nichts anderes im Kopf, als mit ihrem Freund zum ersten Mal zu schlafen. Der zeigt dann das Präservativ hoch, das ist dann auch ein kräftiger Kontrast. Ich spiele mit dem Publikum. Das macht mir Spaß.

Das falsche Vaterunser

KH: Der härteste Schnitt ist der vom Krankenhaus zu der Beerdigung. Sue spricht mit ihrem Mann und sie beten das Vaterunser. Dann kommt der Schnitt zur Beerdigung. Das ist sehr hart, das ist eine Riesenellipse. Hattest du das vorher schon so geschrieben mit dem Vaterunser?

R: Von Anfang an. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob das überhaupt geht. Kann man im Krankenhaus sitzen, inmitten von Leuten, die da herumwuseln in dieser Krankenhausatmosphäre, und da sitzen zwei und beten das Vaterunser, zwei, die sonst nicht so viel mit der Kirche am Hut haben. Und dann gibt’s ja noch für diese Szene, die ich total liebe, das Moment, daß er Bescheid weiß. Er fragt, hat mein Sohn eine Chance, und der Arzt sagt gar nichts, und erst nach einer langen Pause schüttelt er ganz leicht den Kopf. Man sieht dann an seinem Gang, wie zerschlagen er ist, und auch wenn er redet, dieses fast zerbrochene Reden. Er verspricht sich da auch, ich habe das aber alles so gelassen, weil es für mich wichtig war.

KH. Er weiß, der Sohn hat keine Chance, während sie noch Hoffnung hat.

R:. Ich weiß nicht mehr, wer was genau sagt. Sie gesteht ihm, daß sie ihn betrogen hat. Sie sagt, sie liebt einen anderen Mann. Und dann sagt er irgendwas. Und da gibt’s von ihr einen Blick wie sie ihn anguckt. Das ging mir durch Mark und Bein. Beim Drehen und beim Sehen dann hinterher. Dieser Blick für mich - ähnlich wie ein Blick von ihr bei der Talkshow am Anfang, wo er was sagt und sie ihn anguckt und ihm so einen kurzen scharfen Blick zuwirft. Aber hier gibt’s einen ganz langen, ganz intensiven Blick, der für mich unfassbar ist. Der alles Elend und die Wahrheit ihrer Beziehung erzählt. Nur ein Blick! Und dann dieser hilflose Versuch von ihr, wo sie sagt, lass uns zusammen Vaterunser beten, und wo sie beim Beten merkt, daß sie es gar nicht mehr kann, und er, der eigentlich noch weniger beten will als sie, hilft ihr dann ein bisschen, aber er kann es auch nicht. Die ernsteste Situation, die sich für ein Ehepaar vorstellen lässt, wird fast zu einer Komödie. Es ist so überdreht, die Hilflosigkeit der beiden und die Trauer, die Wahrheit ihrer Ehe, zeigt sich in dieser einen Szene.

KH: Dieses Vaterunser wird ja in einer sehr speziellen Version gebetet, verkürzt und falsch. War das im Drehbuch so vorgesehen?


R: Im Drehbuch steht: sie beten das Vaterunser, da ich davon ausgegangen bin, daß jeder das Vaterunser kann. Ich war mir nicht sicher, ob das überhaupt geht. Ich hab das den Schauspielern überlassen.

KH: Sie konnten es tatsächlich nicht?

R: Sie konnten es nicht, das ist nicht gespielt. Nein, natürlich ist es gespielt. Sie haben sich total in die Szene versetzt. Wie er geht am Anfang, wie er die ersten Sätze sagt, wie sie die ersten Sätze sagt, da sind sie so sehr in den Figuren drin. Sie existieren als Schauspieler im Grund genommen in diesem Moment nicht mehr, und daraus hat sich dann alles entwickelt. Daraus hat sich dieses falsche Vaterunser-Beten entwickelt. Das ist auch eine Szene, die ich nicht nochmal drehen konnte. Nein, ich glaube, ich hab sie nochmal gedreht, weil der Tonmeister mir gesagt hat, daß da ein Versprecher war. Wenn ich drehe, nehme ich nicht wahr, was die Schauspieler sagen. Ich hab nur einen Gesamteindruck von allem und achte nicht auf die Sprache. Sprache und Bewegungen, Blicke, das ist alles eine Sache für mich. Ich habe dann aber doch die Szene genommen, wo sich Karl Kranzkowski verspricht.

KH: Ich finde, das ist ein wunderbares Beispiel dafür, welche Glücksfälle Unvollkommenheiten sein können. Was Rivette seinerzeit zu Rossellini schrieb: daß es ein Kino ist, das nicht auf Perfektionismus setzt, sondern mit Unvollkommenheiten arbeitet.

R: Es wäre doch absurd gewesen, wegen eines nicht richtig gesprochenen Vaterunsers oder wegen eines Versprechers die Szene nicht zu nehmen. Worum geht’s denn beim Machen eines Films, eines Kunstwerks oder was auch immer? Es geht doch um die Wahrheit der Geschichte, um die Wahrheit des Lebens, und nicht um technische Perfektion. Das bedeutet mir gar nichts. Perfektion, die Technik insgesamt, hat dem zu dienen, was dargestellt werden soll, hat den Schauspielern zu dienen Bei mir sowieso am ehesten den Schauspielern, weil ich Geschichten durch die Schauspieler erzähle, ich führe Regie durch die Schauspieler. Ich gucke ja nur auf die Schauspieler. Auf das Bild gucke ich überhaupt nicht hin. Deswegen hat’s bei mir ja noch nie eine Kamerakonzeption gegeben.

KH: Ich finde ja bei „Frau fährt“ gibt es gegenüber „Rot und Blau“ einen ganz anderen Tonfall, einen anderen Grundton. Er fängt an sich so ähnlich an, so ein bißchen ironisch und satirisch auch, was die Fernsehshow angeht, und dann wird er sehr ernst und sehr viel düsterer als „Rot und Blau“. Einfach weil es dann auch in der Geschichte zu tragisch wird, mit dem Zusammenbruch und dem Tod des Sohnes. Hast du von Anfang an diese Wendung gedacht?

R: In den „Notizen“ am Anfang des Drehbuchschreibens schreibe ich, das wird ein Film über den Tod. Der Tod wird eine große Rolle spielen. Als es dann passierte, beim Schreiben, waren die Leute, die das live mitgelesen haben schockiert und haben ganz perplex reagiert. Dabei hatte ich schon gleich am Anfang darauf hingedeutet.

Die "Wahlverwandschaften"

KH: Es gibt ja im Film noch eine andere schlimme Wendung: die Freundin, die Studentin von ihm, verliert ihr Kind. Mich erinnert das ein bißchen an die „Wahlverwandtschaften. Da sterben auch Kinder oder werden nicht geboren. Also auch so ähnliche Schicksalsschläge. Das ist ja doch ein Stoff, mit dem du dich schon lange beschäftigt hast.

R: Ich habe halt die „Wahlverwandtschaften“ verschlungen. Mehrmals. Nur als ich „Tarot“ gedreht habe, habe ich sie nicht gelesen. Aber vorher. Für mich war es wichtig, wie Goethe erzählt: seine Haltung zu den Figuren innerhalb des Romans. Für mich war ganz klar, der Eduard ist eine Identifikationsfigur für Goethe, und gleichzeitig beschreibt er ihn wie ein Chemiker, der einen chemischen Prozess beobachtet und beschreiben soll. Diese Gleichzeitigkeit von Identifikation und kühler, sachlicher Distanz, fast wissenschaftlicher Distanz, die man im Roman spürt, das war’s, was mich an diesem Roman verrückt macht und was ich immer als Ironie bezeichne. Und meine Erzählhaltung bei allen meinen Filmen ist auch diese Art von Ironie. Die Verwandtschaft bezieht sich also weniger auf Motivähnlichkeiten als auf die prinzipielle Art zu erzählen.

KH: Es gibt natürlich auch einen Verweis auf Goethe. Ich glaube, Sue liest Goethes Gedichte in der Klinik.

R: Sie liest Gedichte von Goethe, und der Lehrer von Martin nimmt in der Schule Goethes „Werther“ durch und liest einen vergleichsweise langen Text aus Goethes „Werther“. Die Sache mit dem Weltschmerz, wo da die Rede ist von den dunklen Augen, die ihn verfolgen. Was natürlich genau auf die Situation des Jungen zutrifft, der ja gar nicht zuhört, sondern ein Buch über „Wie lerne ich Hypnose“ liest.

Ein Take für die Beerdigung

KH: Die Szene der Beerdigung des Sohnes ist sehr komplex. Sie fängt als ganz traurige Szene an, und dann wird sie aufgebrochen durch den Zusammenbruch von Hannelore Elsner. Was sie dabei sagt, passt ja eigentlich gar nicht zu der Situation.

R: Rede doch nicht um den heißen Brei herum! Sie sagt: ich will ficken. Sie rastet aus. Der Pfarrer, der ein echter Pfarrer ist, hatte Probleme bei diesem Satz. Das gesamte Team hatte Bedenken bei dieser Szene, Hannelore Elsner hatte panische Angst vor dieser Szene. Sie sagte zu mir, wie soll ich das sagen? Das hat sie mich gleich gefragt, nachdem sie das Drehbuch gelesen hatte. Ich sagte: weiß ich auch nicht, wirst du schon finden. Das einzige, was ich getan habe, war, daß ich diese Szene als letzte hier in Berlin gedreht habe, bevor wir nach Sardinien gefahren sind. Ich habe sie ganz an den Schluß gelegt. Der Kameramann fand die Szene absolut grauenhaft und hat sich ausgedacht, daß die Kamera den Anfang filmt und dann wegfährt und der Ausbruch quasi im Off stattfindet und die Kamera weiterfährt bis zur Endposition, wo man da diese Baumallee sieht und der Ehemann mit der Ehefrau, wie er sie trägt, wieder ins Bild kommt und sich von uns entfernt. Die Schienen für die Fahrt waren aufgebaut. Ich habe ihm dann gesagt, er soll mit der Kamera auf Hannelore Elsner bleiben, egal was sie macht, die ganze Zeit. Und in dem Moment, wo der Karl Kranzkowski sie wegträgt und sie im Weggetragenwerden schreit: ich will ficken, fängt die Kamera an zu fahren. Wir haben das einmal ohne Text, nur technisch als Fahrt, geprobt – eine zwölf Meter-Schienenfahrt ist nicht so ganz einfach und alles Mögliche kann da technisch passieren. Die Kamerfahrt war okay, der Ton war okay, es hatte auch aufgehört zu regnen. Dann habe ich gesagt, also gut, machen wir’s. Dem Pfarrer habe ich noch gesagt, bitte machen Sie nichts, sprechen Sie einfach den Text, den Sie uns gesagt haben, und im übrigen überlassen wir alles Hannelore Elsner. Sie wird das Richtige tun. Ja und dann haben wir’s gedreht. Und als es fertig war, habe ich den Kameramann gefragt: war’s okay?, und den Ton gefragt, war’s okay? Dann hab ich gesagt, das war’s, ein Take, danke schön, und bin zu Hannelore Elsner gegangen und habe sie umarmt.

KH: Ein Take?

R: Ein Take.

KH: Daß das nur eine Aufnahme ist, ist natürlich ein starkes Stück. Da hätte ja so viel schief gehen können!

R: Es hat geregnet und alles Mögliche. Das gesamte Team, der gesamte Film, war im Grunde auf diese Szene zugerichtet. Alle wussten das. Wir haben morgens um acht uns da am Friedhof versammelt und angefangen aufzubauen, und die Statisten kamen, alles Drumrum war aufgebaut, draußen außerhalb des Friedhofs das Catering und dieser ganze Zirkus, ein Kostümraum, und ein Maskenraum. Es war schon eine Riesenprozedur vorher. Die ganzen Statisten wurden angezogen in Trauerkleidung. Und dann fing es an zu regnen, und es schien sehr, sehr schwierig zu werden. Ja und als dann nun alles stand, und alle waren gespannt, was wird nun passieren, was wird die Hannelore Elsner sagen, wird sie sagen, ich will ficken oder was wird sie sagen. Kann sie das wirklich sagen. Und dann passiert es einfach. Und dann sag ich: das war’s! Die sind alle fast zusammengebrochen. Und die Leute haben zu mir gesagt: sowas haben wir überhaupt noch nie erlebt, die Statisten. Und das Team, die haben geheult, die haben geheult beim Drehen! Die Szene ist ja auch stilistisch hervorgehoben im Film. Es ist das einzige Mal, daß die Kamera sich bewegt, daß die Kamera fährt. Es ist die längste Einstellung des ganzen Films. Über 5 Minuten lang. Am Schluss des Films, wenn Hannelore Elsner am Strand von Karl Kranzkowski weggeht, gibt’s den einzigen Schwenk im Film. Sonst ist die Kamera immer statisch.

Die Schwäche des Menschen

KH: Wie habt ihr den Pfarrer gefunden? Er ist sehr gut.

R: Es ist derselbe Pfarrer wie bei „Just Married“. In „Just Married“ hat er eine Hochzeit, eine Taufe und eine Beerdigung gemacht. Es ist auch derselbe Friedhof. Da kannte ich mich schon aus. Ein Friedhof in der Nähe der Zionskirche in Prenzlauer Berg. Wir hatten bei „Just Married“ die Erfahrung gemacht, daß die dort amtierenden Pfarrer sich geweigert haben, sowas für einen Film zu machen, daß das ein Sakrament sei und man das quasi nicht zum Spaß machen könne. Das hier ist ein realer Pfarrer, der aber außerhalb von Berlin lebt, der Bruder von Hansjörg Felmy. Ich wußte, daß er das wunderbar macht, also bin ich da kein Risiko eingegangen. Ich finde auch den Ehemann, Karl Kranzkowski, in dieser Szene großartig. Diesen Film muß man schon zweimal sehen, weil man ihn einmal aus der Perspektive des Mannes sehen muß, also auf ihn gucken und wirklich sich auf ihn fixieren muß, und einmal muß man auf Hannelore Elsner gucken. Erst dann erschließt sich der Film als Ganzes. Der Mann ist so unglaublich in dieser Szene. Er ist ja auch genau so tief verletzt und hält es zurück. Die Haushälterin, Serpil Turhan, hat Recht, wenn sie ihm sagt, ich bewundere dich, wie du das alles durchhältst. Und daß er da noch eine Geliebte hat, die von ihm ein Kind kriegt, das schmälert ihn nicht. Auch die Szene, wenn die Geliebte ihm sagt, ich habe das Kind verloren, und er dann sagt, vielleicht ist es das beste für uns alle. Das ist ja so ein unglaublich brutaler Satz, der ist ja furchtbar! Und dann fängt sie an zu weinen und er nimmt sie in den Arm. Das ist so wunderbar! Er ist so menschlich! Er ist der großartigste Vater, den ich je hatte. Selbst in seiner Schwäche mit dieser Geliebten oder mit der Haushälterin. Auch da. Das ist der menschlichste Film, den ich gemacht habe. Der zeigt die Schwäche des Menschen in jede Richtung.

KH: Warum meinst du, daß es ein verkapptes Roadmovie ist?


R: Das hängt natürlich mit der weiteren Bedeutung des Titels zusammen: Frau fährt, Mann schläft. Das ist wie bei „Rote Sonne“. „Rote Sonne“ heißt auch nicht so, weil am Ende des Films die Sonne rot aufgeht über dem Starnberger See. Es bedeutet auch noch was anderes. Ähnlich ist es hier. Die Bedeutungen der Titel, die haben bei mir auch immer was mit der Bedeutung der Titel bei Rossellini zu tun. Ich habe bei meinem Rossellinibuch gemerkt, daß die Titel ganz wichtig sind bei Rossellini. Also hier gibt es einmal das Bild: sie fährt, er schläft. Und dann wird gefahren am Anfang – zur Talkshow. Und am Ende wird sehr viel gefahren und sehr lange gefahren. Die Musik, die im ganzen Film sehr sparsam eingesetzt wird, ist am Ende ab der Fahrt sehr stark. Wenn man das Fahren mal weglässt, es geht hier um Frau und Mann, um eine Ehe. Und in dieser Ehe ist die Situation festgefressen – wie ein Motor mit einem Kolbenbrenner. Ausgelöst durch ein Ereignis, nämlich den Tod des Kindes, passiert etwas in dieser Ehe. Und was passiert eben ist, daß sie sich in Bewegung setzt, daß sie anfängt, wieder lebendig zu werden. Etwas Neues für sich zu suchen, und „Fahren“ bedeutet das doch. Man erlebt etwas Neues, man bewegt sich wohin, wo man vorher nicht war. Das tut sie. Das sieht man bis zum letzten Bild, das dann ausgeblendet wird, wo wir in die Sonne, die sich im Meer spiegelt, aufblenden und die Leinwand weiß wird.

Der Stein im Ameisenhaufen

KH: Weiß Sue bei der Überfahrt mit der Fähre, wenn die Kleider so im Wind wehen, ob sie mit ihm zusammenbleibt?

R: Ich habe das Gefühl, da ist es gelaufen. Sie sagt zwar noch, daß alles möglich ist. Aber sie sagt es in einem derart harten, absolut entschlossenen Ton, daß er nur noch ganz kläglich darauf reagieren kann. Diese Szene erinnert mich an eine griechische Tragödie, weil ihre Haare auch so im Wind flattern, sie erinnert an sowas wie ein Medusenhaupt. Ich kann euch erklären, wie es zu dieser Szene gekommen ist. Da war ein italienischer Aufnahmeleiter, der uns überhaupt die Dreharbeit auf der Fähre ermöglicht hat, aber von Film nicht viel Ahnung hatte, der tauchte plötzlich mit einem Mitglied der Schiffsbesatzung im Hintergrund auf – ich hab das nicht gesehen – und die fingen an zu quasseln, während die Kamera lief. Und Hannelore Elsner, die das gesehen hat, hat vermutlich leicht verärgert, aber auch lauter als vorher das gesagt, was im Drehbuch stand. Und für mich, der ich von dem ganzen Hintergrund nichts wusste, war das plötzlich richtig. Das war die Szene, sie hat viel entschiedener und härter alles gesagt, was zu sagen war. Und für mich hat sie dadurch in diesem Moment ihre Entscheidung getroffen. In den nächsten Szenen macht er ihr den Vorschlag, daß sie doch nochmal zu ihm ins Bett kommt, da sagt sie ganz klar nein. Die nächste Szene ist in einem Café, wo sie sich die Fußnägel lackiert – die ich total liebe, wie sie so dasitzt und er die Zeitung liest, sie gar nicht sieht, weil die Zeitung davor ist, und sie sich dann vorlehnt und ein Bild auf der Rückseite der Zeitung anguckt – das hätte Godard auch so gemacht. Ja, und dann fahren sie ans Meer. Da ist auch jede Kleinigkeit wichtig. Wie sie gehen. Wie sie ihm den Autoschlüssel gibt – da fährt sie ja auch… Sie zieht ihre Sandalen da aus. Sie gehen zuerst ganz weit auseinander, dann gehen sie ein bißchen näher zusammen. Dann läßt sie ihn stehen und geht einfach ins Wasser – wie Iris Berben in „Supergirl“. Dieser Bezug war mir natürlich beim Schreiben auch schon klar. Sie geht also ins Wasser und rennt dann ein paarmal hin und her, und dann kommt sie zurück zu ihm und leckt an ihrem Finger, an dem sie den Ehering trägt, um den Finger ein bißchen glitschiger zu machen – und dann ist die Entscheidung gefallen.

KH: Es gibt in dem Film einige Stellen, da ist davon die Rede, wie nach einem Zusammenbruch, nach einem Kollaps, sich wieder ein Gleichgewicht herstellt. Hanns Zischler spricht davon, man müsste sich das Universum wie einen Ameisenhaufen vorstellen, wo ein Junge einen Stein reinwirft, und dann wuseln alle durcheinander und die Leichen werden abtransportiert. Aber dann würde sich sehr schnell wieder ein Gleichgewicht herstellen. Das Universum funktioniert genauso, nur daß es Millionen Jahre dauert. Es gibt noch eine andere Stelle, da erzählt er davon, das Gehirn würde sich auch wieder regenerieren, wenn es in Ruhe gelassen wird. Und dann sagt der Nicolai: wie beim Computer - Neustart!

R: Diese beiden Szenen zusammen, also „Ameisenhaufen“ und die Sterne und „Neustart“, muss man als Hintergrund haben, um die ganze Brutalität, wie das Leben der Familie weitergeht, nachdem der älteste Sohn gestorben ist, überhaupt akzeptieren zu können. Es ist ja furchtbar. Da redet ja keiner einen Pieps mehr darüber. Und wenn die älteste Tochter, Sue-two, dann fragt, kann mein Freund in Thomas Zimmer schlafen – oh Mann – hat die denn überhaupt keine Moral? Oder die Mutter kommt zurück aus dem Irrenhaus. Die Kinder sehen sie zum erstenmal nach vierzehn Tagen – und die jüngste Tochter hat nichts anderes im Kopf als diesen Film, in dem sie da spielen soll. Das ist doch skandalös! Da gab’s auch Leute, die gesagt haben, das kann man nicht machen. Aber so ist das Leben. Man muss das, was man sieht, nur als Folie nehmen für das, was vorher passiert ist.

KH: Ist das denn ein Zitat mit dem Ameisenhaufen?

R: Nein. Das ist mir als Bild eingefallen. Ich war als Kind viel im Wald und da gab es viele Ameisenhaufen.

Abschied am Bahnhof

KH: Sue bringt ihren Freund, also Hanns Zischler, zum Bahnhof. Der will nach Südamerika. Eigentlich müsste er doch eher zum Flughafen gebracht werden. Warum verabschieden sie sich am Bahnhof?

R: Der fliegt von Frankfurt aus! Das war nicht so gedacht. Am ersten Drehtag, am 9. April, war der Fall von Bagdad. Und mit Beginn des Krieges gab es keine Möglichkeit mehr, weder in Tegel noch in Schönefeld, eine Drehgenehmigung zu kriegen, um auf dem Flughafen zu drehen. Dann habe ich gesagt, also gut, dann verlegen wir die Abschiedsszene einfach auf einen Bahnhof. Er fährt mit dem Zug nach Frankfurt und von da aus geht der Flieger. Vielleicht muß er noch was sagen, daß er nicht gerne fliegt. Nach Südamerika kann er ja nicht mit dem Zug fahren, da muss er ja fliegen. Hanns Zischler im Leben fährt übrigens gerne Zug. Das passt also. Nun ist aber noch folgendes passiert. An diesem Tag, wo wir dann gedreht haben im Ostbahnhof, weil’s da einfacher ist und weil wir uns da eh schon auskannten von „Rot und Blau“, an diesem Tag ist das Bahnnetz zusammengebrochen. Irgendwie die Elektrizität, weiß der Kuckuck was, auf jeden Fall war, als wir da waren mit offizieller Genehmigung, auf diesem Bahnhof die absolute Hölle los. Alle Züge waren durcheinander. Das, was wir uns vorher ausgedacht hatten, welchen Zug wir nehmen, wo er dann einsteigt, es funktionierte nichts. Züge kamen und gingen völlig unplanmäßig, die Passagiere der Züge wirbelten durcheinander wie in einem Ameisenhaufen, und ununterbrochen hat die lauteste Ansagerin, die ich je auf einem Bahnhof gehört habe, irgendetwas durchgesagt, es war die Hölle! Und dieser, man könnte fast sagen, literarische Text da mit dem Ameisenhaufen und dem Zusammenbrechen eines Sterns, der ja in der Situation doch ein bißchen weit hergeholt ist, dieser Text bekam durch die Art wie Hanns Zischler ihn sprechen musste, durch die Lautstärke, mit der er ihn gesprochen hat, durch die Hektik und Nervosität, bekam er plötzlich einen Reiz, wo ich dachte, hier sind uns die Götter (des Zufalls) zu Hilfe gekommen. Der Text wird noch schöner durch das, was Hannelore Elsner macht. Denn statt ihm zuzuhören, ist sie ganz in dieser Abreise- und Trennungssituation. Sie ist nervös und fasst ihn an und fummelt ihm an den Knöpfen rum wie eine Mutter, die noch an ihrem Sohn zupft, bevor er irgendwie zum Militärdienst nach Südafrika oder so geht. Dadurch wird der Text absolut okay, den ich doch für wichtig halte für den Gesamtfilm. So wie er gesprochen wird, da kannst du alles sagen in diesem Irrsinn.Natürlich ist es Zufall. Es gibt auch eine technisch saubere Aufnahme, ohne allzuviel von dieser Lautsprecherstimme, aber ich habe diese total hektische Version ausgewählt.

Um den Kern in der Muschel

G: Haben denn die Namen auch was mit den Personen zu tun?

R: Na natürlich. Aber da ich nicht darüber nachdenke – das wäre dann die Aufgabe eines Kritikers, der das dann analysiert. So wie das dieser Jörg Tykwer vor zwanzig Jahren getan hat, der eine Doktorarbeit über die ersten 5 Minuten von „Rote Sonne“ geschrieben hat. Der beschreibt alles, was man denken kann, beim Sehen des Films, jede Art von Assoziation bei jedem Bild, bei jedem Wort, das fällt und geht diesen Assoziationen nach. Für mich war das total spannend zu lesen, weil ich gemerkt habe: alles, was ich beim Drehen und Fertigstellen des Films vage im Kopf habe, kommt letzten Endes bei einem anderen tatsächlich an.

KH: Warum hast du die Hinweise auf den Irakkrieg eingebaut?

R: Ich versuche ja immer, das Alltagsleben aufzuzeichnen. Zum Alltagsleben gehört, daß die Haushälterin der Familie Bogenbauer eben morgens Brötchen und all die möglichen Sachen für die diversen Kinder einkauft und ein Paket Zeitungen, und zwar alle Zeitungen. Ein Professor für Philosophie liest, oder überfliegt zumindest, täglich alle Zeitungen, auch die großen überregionalen Zeitungen. Das gehört einfach zur Routine. Daß in dem Moment Bagdad fällt, das ist die Koinzidenz. An dem Tag, wo wir angefangen haben zu drehen, fiel einfach Bagdad, am 9. April. Ich habe ja sowas Ähnliches schon mal gemacht in „Der Philosoph“. Da gehörte es zu dem Superservice, den die drei Frauen dem Philosophen bieten, daß er morgens das Frühstück ans Bett gebracht kriegt, und zum Frühstück gehören für mich sämtliche Zeitungen. Da ist zum Beispiel eine Schlagzeile „Strauss attackiert die Bundesregierung“. Später, als Strauss schon gestorben war, hat diese Schlagzeile ganz merkwürdige Assoziationen ausgelöst. So eine tagesaktuelle Schlagzeile verwandelt die Bedeutung, wenn man sie von ein bißchen weiter weg sieht, also zeitlich weiter weg. Und hier war der Plan ein ähnlicher. Es gehörte natürlich auch zum Konzept der Gleichzeitigkeit. Gleichzeitig wollte ich das reinnehmen, was in der wirklichen Welt passiert. Es war eigentlich auch geplant, während der Fahrt zur Talkshow im Radio – also einen Tag vorher – die Nachrichten vom Fall von Bagdad zu bringen. Ich hatte das Tape und auch die Rechte dafür, das zu benutzen, bloß da haben wir gemerkt, daß die Reaktionen der Familienmitglieder dann inadäquat gewesen wären zu dem, was da im Radio gekommen ist. Und dann habe ich’s weggelassen.

G: Du machst das aber gerne mit dem Radio. Ich erinnere mich an „Das Geheimnis“. Da gab’s den sogenannten Frühstücksdirektor Bertram. Als der dann weg war, weil er in der DDR ein Informant war, war das auch so ein eigenartiges Gefühl.

R: Das ist wie Kerne, die man in Muscheln einsetzt, und darum bildet sich dann eine Perle. Wirklichkeitskerne, um die herum der Film entsteht, um die herum die Geschichte wächst. Kristallisationskerne, die eigentlich nicht reinpassen und auch nicht reingehören, aber dann doch mit dem Gesamten eine Einheit bilden und eine Funktion übernehmen, und die vielleicht in späterer Zeit die Sache noch lebendiger machen.

Ein Road-Movie

KH: Die Fahrt aus dem Tunnel am Ende wirkt sehr stark.

R: Sie wechseln die Plätze. Sie fahren in der Nacht, dann ist der Platzwechsel im Dunkeln und sie fährt. Dann kommt der Tunnel. Und wenn sie rauskommen, ist es hell und sie sind in Italien. Nur daß wir die Szene mit dem Platzwechsel nicht in Italien gedreht haben, sondern hier in der Nähe von Berlin. Um das ein bißchen glaubwürdiger zu machen, haben wir einen Tunnel dazwischen getan, den wir allerdings in Italien aufgenommen haben.

G: In „Chamissoplatz“ kommt das auch vor.

R: Da fahren sie ja auch nach Italien.

G: Und kommen auch morgens an. Und sie haben auch eine schmutzige Windschutzscheibe.

R: Sie kommen morgens an, um zu sehen wie die Sonne über dem Meer aufgeht. Das war der Plan. Der Wagen ist tatsächlich diese Strecke gefahren und ich habe gesagt: bitte lasst alles so, de Scheibe wird nicht sauber gemacht. Das ist doch klar. Dann kann man an der Scheibe sehen, daß sie lange gefahren sind. Wenn sie dann aus dem Tunnel rauskommen - und das ist auch eine meiner Lieblingsszenen – ist das ja eigentlich nichts Besonderes. Man sieht halt eine Landschaft. In der Ferne vielleicht das Meer. Aber irgendwie bedeutet die Szene mehr, enthält mehr als das, was man da nur sieht. Das wird durch die Musik aufgebaut. Aber auch durch das Fahren. Ich habe ja gesagt, das ist wie ein Road-Movie. Es gibt eine Einstellung in meinem Film „Made in Germany und USA“, wo sie am Ende über diese Brücke fahren, die steil nach oben und dann wieder runter geht, und im Hintergrund hört man total verzerrt aus dem Autoradio „Nights in White Satin“. Die Fahrt hier funktioniert im Grund genommen ähnlich. Das wird ausgelöst durch die Musik, die quasi nur das Thema spielt, das man schon die ganze Zeit gehört hat im Film, aber irgendwie intensiviert, da wird in der Musik das Leben der beiden nochmal zusammengefasst. Ich versuche einfach zu verstehen, warum diese Szene damals bei „Made in Germany und USA“ wie jetzt in diesem Film der emotional bewegendste Moment des ganzen Films war. Wir wissen zumindest von Blumenberg, daß er das auch so empfunden hat. Hier bei dem Film weiß ich es auch von einigen Leuten, die den Film gesehen haben. Der emotional bewegendste Moment ist ein Moment, wo eigentlich gar nichts ist! Wo gar nichts passiert, wo man nichts sieht. Aber was ich viel verrückter finde, ist, daß man quasi die Personen, die man nicht sieht, vom eigenen Gehirn her wahrnimmt. Das mehr wahrnimmt über diese Personen, als man wahrnehmen würde, wenn man sie sehen würde.

KH: Die Musik ist eine andere Art von Musik als du sie bisher hattest.

R: Es ist die teuerste Musik, die ich je in einem Film hatte, weil sie von einem richtigen klassischen Orchester gespielt wird. Das hat funktioniert und ich bin darüber sehr glücklich und werde auch die Zusammenarbeit fortsetzen. Die Musik hat Katia Tchemberdji komponiert, eine Russin. Sie hat die Idee für das Hauptthema bekommen, als sie im Drehtagebuch im Internet ein Foto von dem nachts im Auto fahrenden Ehepaar gesehen hat. Aber die Musik ist relativ sparsam eingesetzt, also viel sparsamer als in den Filmen, die ich vorher gemacht habe. Es gibt eigentlich nur am Schluss zehn Minuten durchgehende Musik. Von dem Moment an, wo sie nach Italien fahren, ist Musik. Aber es ist im Prinzip immer wieder nur ein Motiv oder ein Thema.

Potsdamer Platz, Ureparapara

KH: Es gibt auch diese Ansichten vom Potsdamer Platz, also auch so eine Art leere Bilder, die du öfter benutzt. Man sieht den Potsdamer Platz aus einer anderen Perspektive als man ihn sonst sieht.

R: Weil du Detailansichten der Architektur siehst. Wenn man sie in solchen Details aufnimmt - auch das gehört zur Gleichzeitigkeit -, sind die Ansichten vom Potsdamer Platz ein eigenes Element, das immer wieder auftaucht. Diese Art der Architektur ist ja etwas, was es jetzt gibt. Und es ist auch so gezeigt, mit so ungewöhnlichen Ausschnitten, daß man weiß, das ist jetzt, der Beginn des 21. Jahrhunderts. In 100 Jahren wird man wieder ganz anders bauen. Also auch da geht’s um die Zeit – sie darzustellen. Es geht aber auch darum, innerhalb des Films eine weitere Ebene reinzubringen, die innerhalb der Erzählung quasi eine Interpunktionsfunktion hat.

KH: Diese Art von Aufnahmen erinnern natürlich sehr stark an Ozu. Der macht das ja auch sehr häufig so.


R: Die Bilder von diesen drei Hochhäusern, die von der Leipziger Straße aus aufgenommen sind, sind ja immer aus der gleichen Kameraposition aufgenommen, nur zu verschiedenen Tageszeiten. Das habe ich einmal gesehen, und deshalb habe ich den Umzug der Familie von dem Einfamilienhaus an den Potsdamer Platz machen lassen. Ich habe das nachts gesehen, da sieht das unglaublich aus! Ich war so fasziniert von diesem Bild, und das ist halt auch im Film drin. Die Dreiergruppe der Hochhäuser ist immer wieder nach Szenen eingesetzt, die einen besonderen Stellenwert im Film haben, dreimal. Übrigens ein Film, wo solche Bilder auch vorkommen, ist natürlich „Beschreibung einer Insel“. Da gibt es immer wieder dieses Bild von außerhalb der Insel Ureparapara, auch zu verschiedenen Tageszeiten.

Die fünfte Periode

R: Nachdem der Film fertig war, hatte ich schon ein das Gefühl, das er ein bißchen eine Summe meiner Filme, meines Werkes ist. Früher habt ihr jungen Kritiker, ihr Jungs, wie ich immer gesagt habe, behauptet, es gebe bei mir drei Perioden – so wie bei Picasso die rote und blaue oder grüne, was auch immer Periode – und habt meine Filme so eingeteilt. Jetzt will ich eine neue Periode anfangen. Eine Sache, die ich meiner Kamerafrau bei dem neuen Film gesagt habe, ist: auch wenn das der dritte Teil der Trilogie ist, vergiss alles, was davor war. Jetzt mit „Rauchzeichen“ beginnt was Neues.

KH: Die Filme mit Max Zihlmann sind die erste Periode. Dann „Tagebuch“, „Made in Germany und USA“ und „Beschreibung einer Insel“, also diese dokumentarische Phase. Dann gab es nach Drehbüchern von anderen „Berlin Chamissoplatz“, „System ohne Schatten“ und „Tarot“. So war der Stand damals, als wir 1988 dieses Seminar gemacht haben. Ab „Mikroskop“ kommt sicher eine neue Zeit, da wo du als eigener Autor geschrieben hast. Und wenn du jetzt sagst, mit „Frau fährt“ ist ein Abschluss erreicht, könnte die fünfte Periode beginnen.


R: Das hat sich jetzt aus dem Gespräch ergeben und beim Überlegen, wie der Film so insgesamt ist, als Gudrun sagte, da könntet ihr eine Doktorarbeit drüber schreiben – ich hab beim Sehen des Films, als er fertig war, ähnliche Gefühle gehabt. Das ist ein Film, der einen sehr sehr großen Bogen spannt, mehr als jeder andere Film von mir. Der vermutlich im Nachhinein eine größere Bedeutung haben wird als die Filme, die ich vorher gemacht hab.

KH: Ich würde eher „Paradiso“ als so eine Summe sehen, als Höhepunkt auch der von dir selbst geschriebenen Filme.

R: Geht mir nicht so. Für mich war „Paradiso“, wie ich es damals gesagt habe, eine Reaktion auf einen andern Film, eine Zorn- und Trotzreaktion auf den Angelopoulos-Film. Mir ging’s da wie Hawks. Man sieht’s dem Film nicht an, aber so ist er halt geworden, aus dieser Reaktion heraus. Für mich, in meiner Biographie als Autor und Regisseur, hat er nicht die Bedeutung, die ich jetzt bei „Frau fährt, Mann schläft“ sehe, und jetzt wo der Film fertig ist – bevor er von Leuten gesehen worden ist – würde ich das so sehen. Jetzt wenn ich anfange darüber nachzudenken und darüber zu reden, merke ich es noch mehr. Und merke, das was ich jetzt vorhabe, den dritten Teil der Trilogie, daß ich die schon wieder absetze, versucht bin, den abzusetzen von dem, was davor war.

Reise nach Italien

G: War bei „Frau fährt, Mann schläft“ der Titel wieder zuerst da, als du das Drehbuch geschrieben hast?

R: Den Titel habe ich beim Nachdenken über den Titel von „Rot und Blau“ schon gehabt. Da kam mir vor allem anderen die Idee, ich mache eine Trilogie, um die Leute zu ärgern, die mich den deutschen Rohmer nennen. Ich darf mich eigentlich nicht wundern, daß manche Kritiker so ungehalten sind über mich, weil ich sie ja auch piekse, das macht mir Spaß. Ich hatte gleich am Anfang als Film Nummer zwei „Frau fährt, Mann schläft“ geschrieben. Für den dritten Film hatte ich keinen Titel. Und ich hatte auch, glaube ich, am zweiten oder dritten Tag dieses Motiv Zeitreisen als gemeinsamen Untertitel für die Trilogie. Bei Zeitreisen gibt’s nur die drei Möglichkeiten: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Und dann habe ich mir gesagt, fängst du halt mit der Vergangenheit an.

G: Hast du bei diesem Titel auch an Rossellini gedacht? Da fährt ja auch die Frau am Anfang in „Viaggio in Italia".

R: Ein bißchen ist das natürlich auch da. Wann hab ich den zum letzten Mal gesehen? Das weiß ich nicht mehr.

KH: Ich hab’s nachgelesen in deinem schönen Rossellini-Buch. Es fängt tatsächlich so an mit Fahrtaufnahmen. Und er schläft, während sie fährt.

R: Nein! Das wusste ich nicht mehr. Das finde ich toll. Oh Gott, das gefällt mir. Das ist übrigens komisch mit Rossellini. Eine Mitarbeiterin von mir, meine Regieassistentin, die bei diesem Film „Frau fährt, Mann schläft“ nicht mitgemacht hat, aber bei „Rot und Blau“, hat ihn jetzt als Video gesehen und war total fasziniert und hingerissen und sie sagte, der Film, der zieht einen hinein, wie ein Sog funktioniert der. Und sie sagte, der Film erinnere sie total an Rossellini und zwar an „Stromboli“. Daran habe ich nicht gedacht. An „Viaggio in Italia“ habe ich ein bißchen gedacht, glaube ich. Ich denke ja auch, daß der Film ein verkapptes Road-Movie ist. Das geht ja auch aus dem Titel hervor. Den Titel hab ich ja nicht nur genommen, weil es da eine Szene gibt, wo die Frau Auto fährt und der Mann dabei schläft, sondern er bedeutet schon noch ein bißchen mehr.

KH: Als Anmerkung: man könnte ihn ja auch selbst als „Viaggio in Italia“ bezeichnen.

R: Jaja, die fahren dahin.

KH: der Anfang von Rossellinis Film ist: Sie fährt und dann hält sie und sie wechseln die Plätze.

R: Auch das!

KH: Ja! Das ist bei dir nur umgekehrt. Erst fährt er.

R: Das war mir nicht bewusst. Ich habe jetzt – beim Durcharbeiten des Drehbuchs von „Rauchzeichen“ mit der Kamerafrau - zum ersten Mal in meinem Leben ein Kamerakonzept entwickelt. Es ist entstanden während des darüber Sprechens, wir haben zwei Tage von morgens acht bis abends um fünf darüber gesprochen, und irgendwann kam ich plötzlich auf die Idee, ich renne dahin zu meinen Büchern und lese ihr das vor, was ich über „Il Messia“ geschrieben hab: Zooms, Kran und Fahrten. Ich habe noch nie in meinem Leben einen Zoom benutzt. Der Effekt, der sich bei „Il Messia“ einstellt, die Benutzung von diesen drei Dingen, ist unglaublich. Ich denke, das ist eine Lösung für die doch sehr schwierige Aufgabe bei „Rauchzeichen“.

KH: Rosellinis „Viaggio“ ist ja auch ein Ehefilm, also ist der Stoff ja auch in gewisser Weise ähnlich.

R: Ingrid Bergmann ist auch ein Weltstar. Hannelore Elsner ist in Deutschland ein Star wie Ingrid Bergmann.

KH: Und Rossellini hat sechs Filme mit Ingrid Bergmann gemacht. Du hast erst zwei mit Hannelore Elsner gemacht.

R: Jetzt kommt der dritte.

G: Du musst insgesamt sechs machen. Eine Reminiszenz an Rossellini sehe ich auch bei dem Tod von Thomas. In Rossellinis „Europa 51“ begeht der Sohn Selbstmord. War dir das bewusst?

R: Nein.

G: Und Ingrid Bergmann kommt auch in eine Nervenheilanstalt.

R: Nein! Oh Gott!

KH: Bei Rossellini ist Ingrid Berman eine oberflächliche Society-Frau, dann bringt sich ihr Sohn um. Sie beschließt dann, es muß alles anders werden und wendet sich den Armen zu. Das geht ihrer Familie so gegen den Strich, daß sie sie in eine Klinik einweisen. Ich hab’s alles in deinem Buch nachgelesen. Du musst mich nicht so ungläubig angucken.

R: Ich bin perplex.

KH: Der Tod des Sohnes ist in beiden Filmen ein wichtiger Auslöser für die Veränderung des Lebens.

R: Darüber müsste man nachdenken. Natürlich hab ich mich extrem mit Rossellini beschäftigt, ich habe ja schließlich das Buch gemacht, aber daß das – ohne daß ich das weiß – so stark daran erinnert, und Motive quasi aus dem gesamten Rossellini wieder auftauchen, daß meine Erfahrung mit Hannelore Elsner ein wenig der Erfahrung von Rossellini mit Ingrid Bergmann gleicht, das finde ich fast schon beängstigend.

KH: Es ist ja kein Zufall, daß du dich mit Rossellini beschäftigst.


R: Ja klar. Er ist ein Regisseur, dessen Filme ich liebe. Und der zumindest am Anfang so eine Art Vorbild für mich war. Genauso wie Hawks und Ozu. Ich würde ja fast sagen, erst Hawks, dann Rossellini, dann Ozu. Oder alle gleich, das weiß ich nicht. Aber daß ihr heute in einem fertigen Film Parallelen zu Rosselini entdeckt, das haut mich um.

Kritiken lesen

KH: Warst du mit der Reaktion der Kritik auf „Rot und Blau“ einverstanden?

R: Man sollte ja meinen, daß ich jetzt nach zweiundzwanzig Filmen eigentlich weiß, was ich tue und die Kritik überhaupt nicht brauche, daß ich mich nicht besonders dafür interessiere, aber so ist es nicht. Vielleicht liegt es daran, daß ich selber lange Zeit Kritiker war und deshalb Kritiken lese. Das denke ich aber nicht. Ich mache ja nicht Filme für mich, ich mache ja Filme für ein Publikum, und beim Schreiben – beim Drehen am wenigsten – aber beim Schreiben und beim Schneiden hinterher bei der Endfertigstellung denke ich genau an das Publikum. Ich erzähle und sehe die Leute, so wie ein Puppenspieler mit seinen Puppen, so gehe ich mit den Leuten um, so denke ich an die Leute und spiele mit ihnen. Eines der wichtigsten Momente für mich beim Erzählen einer Geschichte ist eben dieses Spielerische. Dieses Spiel, das ich mit dem Zuschauer treibe. Und Kritiker sind ja zunächst mal nur Publikum, sonst gar nichts. Von dem anderen Publikum kriege ich ja im Normalfall nichts mit. Ich weiß ja nicht, was die sagen. Die Kritiker aber schreiben was in der Zeitung. Ich habe jetzt gerade in Paris die neuen „Cahiers du Cinéma“ gekauft und habe da ein Editorial vom früheren Chefredakteur gelesen, der über die Leser dieser Zeitschrift spricht und ganz besonders hervorhebt: daß eine Kritik, die in dieser Zeitschrift erscheint, von dem Regisseur des Films gelesen wird – das scheint ihm wichtig zu sein, und so haben sie auch geschrieben in den „Cahiers“. Was ich in Deutschland total vermisse, total, absolut, sind Kritiker, die ihre Texte schreiben mit dem Gefühl im Hintergrund, mit dem Bewusstsein, daß der Regisseur das liest. Das quasi sie als Kritiker ein Gespräch mit dem Regisseur anfangen. Das gibt’s nicht hier. Das vermisse ich. Denn das ist ja der einzige Dialog, den ich überhaupt mit dem Publikum führen kann. Der Beifall, wenn ich bei einer Vorführung anwesend bin, das ist es nicht. Das tut gut und so – die Fragen, die ich gestellt bekomme nach einer Vorführung aus dem Publikum heraus, sind es auch nicht. Ich erfahre ein bißchen was, wenn einer auf mich zugeht und mir die Hand drückt und sich bedankt für einen Film. Damit sagt er quasi, du hast mir was gegeben, und das ist schon was. Aber im Grund genommen ein Dialog mit dem Publikum, den gibt es nicht. Ich weiß ja nun selber, wie das ist, eine Kritik zu schreiben. Selbst wenn da nur eine Inhaltsangabe dasteht, sagt die tausend Sachen gleichzeitig, das weiß ich schon. Ich vermisse den Dialog der Kritiker mit dem Regisseur. Das läßt sich natürlich in Tageszeitungen sehr viel schwieriger machen als in Filmzeitschriften, und diese Filmzeitschriften, die das leisten könnten, gibt’s nicht.. Ich habe ein bißchen was davon gefunden in der Kritik in der „Frankfurter Rundschau“. In der „Zeit“ auch. Die Kritik in der „Rundschau“ hat mich am meisten angesprochen.

KH: Wenn du eine Kritik schreibst, hast du natürlich auch als Kritiker ein Publikum, das du nicht kennst. Eine Kritik, die veröffentlicht wird, hat natürlich eine Funktion. Sie soll die Leute informieren.

R: Natürlich. Eine Kritik ist auch genauso was, wie einen Film zu machen.
Als ich noch Kritiker war, hab ich gemerkt, die Mehrzahl aller Filme ist so gedreht, daß man sehr schnell das Gefühl hat, der Kerl weiß überhaupt nicht, was er da macht. Da geht es mit den Einstellungen und Perspektiven drunter und drüber wie Kraut und Rüben. Der hat keine Ahnung von nix. Das heißt also, daß ein Regisseur oder ein Filmemacher offensichtlich blind ist gegenüber seinem eigenen Werk. Denn sonst könnte er ja gar nicht sagen, daß ist ein toller Film oder sowas. Er kann seinen Film nicht wirklich wahrnehmen. Das ist eine Erfahrung, die ich schon ganz am Anfang gemacht habe: ich kann meinen Film nicht mehr sehen! Wenn ich dasitze im Publikum, dann nehme ich ihn mit den Augen der um mich Herumsitzenden wahr. Das führt dann dazu, daß ich manchmal denke, ich hab einen großartigen Film gemacht, und das nächste Mal, wenn die Leute um mich herum den Film nicht gut fanden, fand ich ihn furchtbar. Das hat lange gedauert, bis ich realisiert habe, woran das liegt. Also ich kann meinen eigenen Film nicht wahrnehmen. Die Kritik hat für mich auch eine Kontrollfunktion, wo ich überprüfen kann, ob das was ich wahrnehme oder gedacht habe wahrzunehmen, auch tatsächlich in dem Film drin ist.

KH: Ein Problem ist der Platz in den Zeitungen.


R: Die Zeitungen könnten den Platz natürlich zur Verfügung stellen. Das ist, was ich früher an den „Cahiers“ immer so geschätzt habe, diese wirklich detaillierten Interviews mit den Regisseuren, die sie gut fanden. In Deutschland gibt es keine „Cahiers du Cinéma“. Jetzt bei dem Film habe ja nun einen deutschen Star, Hannelore Elsner. Und ich habe ihr gesagt, sie soll zu Interview-Anfragen ja sagen. Da kommt der letzte Blödsinn raus. Da gibt es fast nie eine Frage, die wirklich um die Arbeit geht, die sie leistet, wenn sie spielt und sich zur Schau stellt. E gibt keinerlei Interesse daran, das zu tun. In ganz vielen Kritiken wird darüber geschrieben, daß Hannelore Elsner in „Rot und Blau“ in Wirklichkeit sechzig ist und im Film eine Fünfzigjährige spielt. Was soll das! Das ist Quatsch. Ich habe ihr jetzt gesagt, sie soll überhaupt keine Interviews mehr machen. In den „Cahiers du Cinéma“ habe ich zum Beispiel mal ein Interview zwischen den Cahiers-Leuten und Sandrine Bonnaire gelesen. Das war ein total spannendes Interview, wie die Arbeit mit diesem Regisseur – das war Rivette – und bei diesem Film war, wie das gelaufen ist. Das interessiert mich doch. Nicht ihr Privatleben.

 

Die Treue zum Kino
Rudolf Thome und Hannelore Elsner reden über Mann und Frau

Elegant sind die zwei platziert, unter Sonnenschirmen, daneben diskret eine Hollywoodschaukel, ganz im Stil der klassischen "Künstler mit Muse"-Bilder…Die Künstler lassen sich, so Federico Garcia Lorca, je nach Inspirationsquelle unterscheiden. Werden sie vom Engel, von der Muse oder vom Dämon (im Goetheschen Sinn) beflügelt? Buñuel war Dämon-Künstler, Truffaut jagte Musen hinterher, Bresson rang mit dem Engel. Rudolf Thome ist Musenkünstler reinster Prägung. Seit den Anfängen, als er der Münchner Schule und dem Neuen Deutschen Kino zugezählt wurde, sind es faszinierende Frauenfiguren, die seinem Kino Kontur geben: Frauen, die für die vehementeste Anregung und Verdichtung von Erzählenergien sorgen. Musen eben. Zur Zeit steht Hannelore Elsner im Zentrum seiner Filme: Hauptdarstellerin von "Rot und Blau" (2003) und "Frau fährt, Mann schläft", zentral auch im nächsten Thome-Projekt.

Während der geplagte Filmemacher von Finanzierungsschwierigkeiten berichtet, von seiner schweren, gerade erst überstandenen Krankheit - "Es war ganz genauso schlimm wie Paul Auster es in 'Nacht des Orakels' beschreibt" - wird Hannelore Elsner für eines dieser Und-was-ist-Ihre-Lieblingsfarbe-Interviews an den Nebentisch geholt. Als sie nach wenigen Minuten zurück kommt, ist das Gespräch beim unvermeidlichen Thema gelandet: Thome, der Frauenregisseur. Sind seine Männer nicht immer - ähnlich wie bei Rohmer - wankelmütig, tölpelhaft, untreu, Dilettanten der Liebe, während sich die Frauen jeder kostbaren Empfindung würdig erweisen? Thome will dem nicht so einfach zustimmen: "Zum Beispiel die Männerfiguren, die Hanns Zischler bei mir spielt, sind nie tölpelhaft. Und auch der Mann in 'Frau fährt, Mann schläft' ist würdevoll und stark. Widerspruch: "Aber er ist doch der Untreue, während die Frau sagen kann: Ich war dir immer treu!" Thome: "Was gar nicht stimmt." An dieser Stelle kommt von Hannelore Elsner ein verblüfftes "Wieso?!" und es entspinnt sich ein kleiner Dialog, der beweist, dass Musen ein Werk besser durchschauern können als der Künstler, der es geschaffen hat: "Ich neige schon dazu, zu sagen: ein Mann, der fremd geht, ist ein Schwächling! "Aber er beschützt doch auch die Frauen, kümmert sich, ist den Kindern ein guter, verlässlicher Vater." "Trotzdem - ein Mann, der solch souveräne Frauen betrügt und verlässt, der ist natürlich ein Arschloch!" "Also gut, wenn der Film das so zeigt, dann ist das so. Weil ich auf der Seite der Frauen bin."
("Frau fährt, Mann schläft" Maxx4, Samstag 14.30 Uhr)

RAINER GANSERA, in Süddeutsche Zeitung 3. Juni 2004